Angry Again

Regelreiter

"Übermut pflanzt Gewalt.
Wenn törichter Hochmut
Sich maßlos berauscht an
Schamlosen, sinnlosenTaten,
Verwegnen Gipfel erklimmt,
Stürzt er jählings herab,
Hinab ins Verhängnis."
Sophokles, König Oidipus

Vor kurzem. An einer Felswand.

Ich schaue. Durchaus skeptisch zwar, aber immerhin dabei zu, wie Wolfgang sich die Würfel schnappt. Sein Oberkörper neigt sich ein wenig nach hinten, während seine Augen sich nach unten verdrehen. Er sucht auf dem Bogen vor sich einen Wert. Dieser Wert ist wichtig. Sonst nicht. Aber jetzt. Für Wolfgang. Situation: Sein Charakter baumelt an einer Felswand, die linke Schulter unbrauchbar von vorausgegangenen Kämpfen, die rechte ermüdet langsam aber sicher. Trotzdem muß er weiter klettern, nach oben ist es zwar anstrengender, aber sicherer. Dazu muß Wolfgang jetzt würfeln, er tut es, seine angespannte Miene löst sich in Erleicherung auf. Triumphierend gibt er den Erfolgswert bekannt: "Ich hab´s geschafft." Peter linst herüber auf seinen Wurf. Scheinbar nachdenklich. Oh weija, denke ich mir so, der wird doch nicht. Nein, das tut er nicht.
"Hast du auch den Malus für deine Verletzung mit einberechnet?", fragt Klaus. Ich zucke zusammen, Wolfgang auch. Kevin, der Spielleiter wirkt erstaunt, hatte er doch schließlich keinen Sekundanten bestellt. "Wenn du den nämlich abziehst, hast du es nicht geschafft, ich meine, mir ist das egal, aber, ich wollt´s nur eben mal sagen."
Du mieser Schisser, denke ich, anstatt froh zu sein, daß wir nicht noch einen verlieren. In der Zwischenzeit hat Dorothee, unsere Stillste, schon ihr Regelbuch auf die Knie genommen (in dieser Runde hat jeder außer mir sein eigenes Exemplar) und präsentiert stolz die Tabelle, die der abscheulichen Tat von Klaus die rationale Krone aufsetzt. Getreu dem Motto: im Bunde sind wir unausstehlich. Klaus kann ich das ganze nicht verdenken, schließlich hat eine ähnliche Bemerkung seitens Wolfgang ihm vor kurzen noch die Männlichkeit gekostet. Als sein Charakter von Amazone gefangen genommen worden war, erinnerte Wolfgang alle Anwesenden (insbesondere den Spielleiter) daran, daß Klaus es versäumt hatte zu erwähnen, daß er den gefundenen Amazonenskalp aus Abenteuer Nr. 38 von seinem Gürtel entfernt hat. Ihm täte es ja persönlich leid, aber man hätte sich ja schließlich auf diese Regel ´nicht gesagt - nicht getan´ geeinigt.
Nun kam die Rache, durchaus gelungen, denn es gibt einen Schrei und Wolfgangs Charakter stürzt zusammen mit dessen Spiellust in den ewigen Nimbus und dem Nirvana des Neuauswürfelns entgegen.
Der Rest quält sich weiter die Wände des Berges und damit die Höhen des Abenteuers empor.
Einige Windungen und Wendungen später:
Unsere Charaktere sind dabei den Drahtzieher, einen üblen Schwarzmagier und Philantrop zu überwältigen. Das Würfelglück hat mich in der Zwischenzeit bei der Stange gehalten, ein Umstand, den zur Zeit nur wenige Mitspieler teilen. Ich kauere in der Ecke, die Dolche gezückt, während unser Priester sich gerade kräftig eins auf die Nuschel hauen läßt. Es gelingt mir doch tatsächlich, mich von hinten an den Schurken heranzupirschen.
Ich wittere Morgenluft, die Ereignisse reißen mich mit, im Kopf formt sich eine herrliche Szene mit mir in der Hauptrolle zusammen. "Ich stürze auf ihn und setze ihm das Messer an die Kehle". "Jaaa," sagt Kevin, "greifst Du ihn jetzt an, verwickeltst Du ihn in ein Handgemenge oder was? Laut Regeln geht nur das eine oder das andere." "Wie wäre es in solchen Situationen einfach mit ein wenig Improvisation", frage ich. Kevin (abwehrend): " Das ist mir zu ungenau, dafür gibt es auch keine Regeln, und jetzt würfel für Handgemenge oder Attacke!"
Sogar improvisieren will der nur nach Regeln. Super! Grummelnd entscheide ich mich für einen Angriff und überlasse Fortuna den Rest, es klappt, ich verzichte auf den Schadenswurf und Heißa! ich sitze auf der fetten Wampe unseres Finsterlings. "Tja", sagt Kevin, "dann zaubert der jetzt Verwandlung auf Dich!" Der Speichel verläßt fluchtartig meinen Mundraum.
"Der zaubert jetzt, obwohl ich auf ihm hocke, einen Dolch an seiner Kehle?" "Ja, Verwandlung ist laut Regeln ein mentaler Zauber, da merkst Du gar nichts von.", sagt Dorothee, die, wohlbemerkt, meine Freundin ist sein sollte. "Tja, dann mach doch mal einen Widerstandswurf, möglichst hoch, häh häh", sagt Kevin. Wenige Sekunden später ist mein Charakter, Cathan der Waldläufer, eine Maus. Eine merkwürdige noch dazu.
Ein hab´-ich-dich-doch-noch-erwischt-Lächeln umspielt den Mund vom Spielleiter, doch ich will mich nicht geschlagen geben und durchforste mein Gehirn, erforsche vergessene Gänge, wische die Spinnweben vom Langzeitgedächnis. "Ich, ääh," Oh Gott, da war doch was, wie hieß es doch noch. Hätte ich doch bloß alles auswendig gelernt, wäre ich doch gründlicher gewesen, warum habe ich mir keinen Spickzettel gemacht: Tausend Regellücken, um den Hintern zu retten, oder so? Gott, hab´ doch Gnade. Moment, Gott, Gnade? Göttliche Gnade!!
"Hey," sage ich, "der olle Sonnengott der Orasecks schuldet mir noch was, schließlich habe ich seinen Sohnemann aufgetaut. Diese Gnadenpunkte kann ich doch jetzt einsetzen, zum wiederbeleben oder so. Das kann der doch."
Danach geht es seinen üblichen Gang. Wie vor Gericht. Es raschelt in vier Rucksäcken, Stofftaschen, Aktenmappen. Dann haben sie alle ihr ureigenes Regelexemplar auf dem Schoß. Ihr Kind. Ihre ganze Freude. Ihr Stolz. Ihr Spaß. Sie blättern und ich werde nervös. Szenen aus Gerichtsverhandlungen blitzen mir wie Stromschläge durch die rechte Hirnhälfte. An meinen Handgelenken entstehen Handschellen. Alle außer mir tragen schwarze Roben und sehen aus wie Perry Mason™. Ich spüre die Spannung des Wettbewerbs untereinander. Wer findet die entsprechenden Stellen zuerst?
"Nuuun, (erheben sie sich, Herr Angeklagter!) ein sofortiges Gotteswunder dürfte hier wohl kaum helfen, schließlich bis du ja nicht tot, sondern nur eine Majorimaus." sagt Wolfgang.
"Gut, ok", stammle ich, "dann laufe ich eben zu einem von euch, ihr bringt mich in einen entsprechenden Tempel und dann schaun wir mal, was die PriesterInnen da machen können."
"Schrecklich gern, Andreas, sagt Klaus (sehr betroffen klingend), "aber du bist ja jetzt eine richtige Maus, d. h. ohne menschliche Intelligenz. Auf S. 113 des Kreaturenkompendiums wird diese Spezie zudem als äußerst menschenscheu und schreckhaft beschrieben. Du wirst wohl zwangsläufig jetzt vor uns weglaufen, und bei unseren Geschicklichkeitswerten sind jedwedige Fangversuche zwecklos."
Vier Augenpaare sehen mich an. Ich nehme sonst nichts wahr. Nur diese Augen. Sie spiegeln die ganze Palette rollenspielerischer Niedertracht wider: Nimms-nicht-so-schwer-Blicke, da-kann-man-nichts-machen-Blicke, jetzt-stell-dich-mal-nicht-so-an-Blicke, bist-du-ein-Mann-oder-eine-Maus-Blicke (ein echter Brüller in meiner Situation) und natürlich so-steht´s-nun-mal-in-den-Regeln-Blicke.
Ich schaue die Bande entgeistert an. Es macht ein vereintes Klapp. Das waren vier Regelbücher. Ich will sie verbrennen. Zusammen mit den Händen, die sie im Namen der Logik mißbrauchen. Dann macht es Ratsch. Das war mein Charakter.
"Warum zerreißt Du denn den Bogen?", fragt Kevin, "vielleicht kann Cathan noch mal als NPC auftauchen. Oder besser gesagt als NPA - Non Player Animal. Hä Hä Hä (alle stimmen in sein Lachen ein).

Was danach genau geschah weiß ich nicht. Seitdem habe ich jedenfalls in dieser Gruppe nicht mehr mitgespielt und Kevin mußte genäht werden. Im Gesicht.
Ist mir heute noch peinlich.
Aber so steht´s in den Regeln.

"No question, now, what had happened to the faces of the pigs. The creatures outside looked from pig to man, and from man to pig, and from pig to man again; but already it was impossible to say which was which."
George Orwell, Animal Farm

Wieder einmal schwimmen wir in der klebrigen Suppe rollenspielerischer Niedertracht und peinlicher Entgleisung: Mitspieler durch Regelreiterei in die Pfanne hauen. Jeder hat sich wohl schon so oder ähnlich verhalten, kein Thema! Wird solch schändliches Treiben allerdings zum Inhalt und alleinigem Antrieb eines Spielers, hat er, aber meistens eher seine Gruppe, ein Riesenproblem. In der wirren Hoffnung, einige Köpfe davon abzubringen: EAT THIS!

Fair Play

Beginnen wir zunächst mit dem einfachsten, offensichtlichsten und altmodistem Grund derlei Dinge nicht zu tun: weil dat nich fair is. Steckt man mal selbst in einer ausweglosen Situation, wie würde es einem gefallen, wenn die ´Freunde´ dafür sorgen, daß man regelrecht regelgerecht ins Grab fährt? Sollte es auch einem selbst schon widerfahren sein, irgendwann muß ja mal einer die Courage besitzen den Kreis zu durchbrechen; sonst wären wir heute noch in irgendwelchen komischen Höhlen, würden Dinosauriersteaks verspeisen und hätten das dumme Gefühl, daß irgendetwas hätte anders laufen können, wenn wir uns nur getraut hätten, den üblichen Tran nicht mehr mitzumachen. Also: was du nicht willst und so weiter. Immer schön fair bleiben.

Don´t destruct fun!

Es zerstört jede Spannung im Fluß der Geschichte, wenn plötzlich Regelfragen diskutiert werden. Jede Scherz, jeder Kommentar verliert gleich an Spritzigkeit, wenn sie mit der nüchternen Regelkelle zugekleistert werden. Da möchte man am liebsten ganz auf seine Aktion verzichten; bevor die ehrenwerten Mitstreiter in ihren Regelwälzern nachgeschlagen haben, hat sich der gute Einfall meistens eh erledigt.
Besonders putzig wird´s, wenn zwei der Anwesenden den Regeltext anders auslegen. Dann geht die Diskussion in bester Wissenschaftsmanier los: jeder kämpft um Textstellen in allen möglichen Quellen- und Zusatzbänden, um seine Theorie zu untermauern. Die Regelkenntnis wird zur Professionalitätsfrage, zur Persönlichkeitsprothese. Nochmals deutlich: Mitspieler ödet solche Diskussionen zwischen zwei Parteien ungemein an. Spätestens wenn die Leute anfangen, aus den Ohren zu bluten und eine gelbe Masse aus den Nasenlöchern läuft, wurde wohl ein wenig übertrieben.

Stop making no-sense!

Es verfehlt den Sinn des Rollenspiels eigentlich generell völlig. Wer unbedingt darauf steht, mit Absätzen und Paragraphen zu jonglieren, kann ja zusätzlich zum obligatorischen Jura-Studium noch CoSim Spiele wie Advanced Squad Leader™ auswendig lernen. Hier kommt es auf die Regeln an, hier darf man pauken und mit dem Gelernten strunzen, an jeder unpassenden Stelle den dicken Regelschuber aus dem Tornister zerren. Rollenspiel war aber doch irgendetwas jenseits von Tabellen und grau hinterlegten Regelkästchen. Phantasie, Kreativität, Teamwork etc. Na! Dämmert´s wieder? Da war doch was, gell? Also: Regeln sind Werkzeug des Rollenspiels, sie stellen ein Hilfsmittel dar. Sie sind schon gar nicht als Selbstzweck konzipiert worden, so schön sie manchem auch erscheinen mögen. Der gesunde Menschenverstand und evtl. auch ein zugedrücktes Auge dienen dem Spielfluß und dem Rollenspiel wesentlich mehr.

"Ein Arsch bleibt ein Arsch, auch wenn er nach Rosen duftet."
Selbst ausgedacht (hoffentlich)

Außer Spesen nix gewesen.

Das andauernde Aufmerksammachen des Spielleiters auf Fehler in der Runde bringt auf Dauer keinen Bonus. Glauben die Petzen unter den Rollenspielern wirklich daran, daß sie aufgrund ihres Denunziantenfaibles die nächste heikle Situation in irgendeiner Form gesunder überstehen werden? Neee. Die von ihnen Geschädigten werden sich rächen und dafür sorgen, daß bei der nächsten Gelegenheit die eigene wirre Vorstellung von Gleichberechtigung zum Tragen kommt. Und so dreht der Kreis des gegenseitigen Durch-Regeln-in-die-Pfanne-hauen seinem unendlichen Schwung entgegen.
Nochmal deutlich: es ist nicht die verdammte Aufgabe der Spieler den Sekundanten des Spielleiters zu mimen. Wenn der eine Orgie mit vielen Charakterleichen feiern will, soll er gefälligst selbst für die Toten sorgen. Dazu braucht er keinen Vasallen, der die Regelwerke dackelgleich nach den passenden Stellen zum Nachteil der anderen durchschnüffelt.

"For a moment he seemed bewildered. And then he whispered in fright, ´I done a bad thing. I done another bad thing.´"
John Steinbeck, Of Mice and Men